Treffen sich ein paar Farben im Maskenland ...


Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen - ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.


Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, dass ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.


Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

 

Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge


In Zeiten der Selbstdarstellung ist es wichtig, sein wahres Gesicht nicht zu zeigen. Es fragt sich nur, wo das Selbst beginnt und das Gesicht endet, was denn ein wahres Gesicht überhaupt ist - und es gibt ja neben den Gesichtern noch die visionär konnotierten Gesichte. Cordula Güdemann überzieht gleich das ganze Land mit einer Maske, häuft tubenweise Farbe auf der Leinwand zu einer überquellend leuchtenden Gegenstandswelt auf, die den Blick auf Horizonte versperrt, genau so, wie die übergestülpten Masken eine Barriere zwischen dem Augenschein und einer seelischen Tiefe errichten. Es ist, als schütte die Malerin Farbe vor unseren Sinnen aus, in deren Pracht wir uns laben, suhlen. Dass die fingierte Welt vor uns auf dem Kopf zu stehen scheint, dass Bedrohliches sich in seiner Unbestimmtheit einstellt, dass etwa »Kafkas Wolke«, kunterbunt wie im Playmobilmärchen, über unerreichbare Treppen führt, die graue Stadt drunter aber nur überstrahlt, erkennen wir zu spät, wenn wir schon längst gefangen sind von der Faszination der imaginierten Welten. Cordula Güdemann malt mit Lust und einer gehörigen Portion Ironie, doch hinter der puren Peinture macht sie uns mit Land und Leuten bekannt, wie sie sonst in gebotener Distanz über den Bildschirm flimmern. Auf Güdemanns Bildern rücken sie uns auf die Pelle, bis sie sich bei zunehmender Nähe in ihrer Gegenständlichkeit auflösen - auch das mit einem wenig beruhigenden Unterton, denn unterschwellig bricht sich das Motiv immer wieder Bahn.


Die Künstlerin entlarvt mit kritischem wie scharfsinnigem Gespür die VIPs und Voyeurs, die kunstevent-gierigen Nachtschwärmer und primatenhaften Dauergrinser, ja sogar himmelhochjauchzende Städte und mit Bildern verstellte und von Erinnerungen überbaute Sofas - so unbehaglich ist es in der Heimat, in den eigenen vier Wänden (ja, in der eigenen wie der fremden Haut) zu wohnen oder zu sitzen. Bekanntlich amüsiert sich der moderne Mensch zu Tode, wobei mittlerweile die Kleistermasse der Selbstmaskierung schon so zugenommen hat, dass das Amüsement als Normalfall angesehen wird: Es ist tiefes Misstrauen angesagt in einer Gesellschaft, die es - kurioserweise - als Negativposten ansieht, »sein wahres Gesicht« zu zeigen: das heißt, sich einzureden, dass ein solches Gesicht, »in plötzlicher Erregung« dem Antlitz entwichen, »ein böses Gesicht« sei. Der Kölner Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der herkunftsbedingt ein karnevaleskes Verhältnis zur Maske pflegte, wunderte sich nicht nur über diese Phrase vom wahren Bösen, sondern auch im positiv-neugierigen Sinne über die »fast schreckliche Überraschung«, die »hinter jeder Maske verborgen ist, etwas Ungeheuerliches, das plötzlich unser ganzes Interesse erweckt«.
Es ist so eine Sache mit der Wahrheit - im Gesicht, welchem auch immer, findet man sie womöglich überhaupt nicht (mehr), und wie viele Schichten gilt es heute - zwischen Small-talk-Nebel und Schönheits-OP - abzutragen, um an einen Grund zu stoßen. Das sich offenbar selbst reproduzierende, aus der Werbung sattsam bekannte No-face-Pärchen, das Cordula Güdemann mit gebleckten Zähnen darstellt, als verkauften sie Zahnpasta, Versicherungen oder Kinderspielzimmer, treten dem Bildtitel nach bezeichnenderweise (als) »Paarwaise« auf: Gemeinsamkeit, gar Zweisamkeit sähe anders aus. Im »Augenblick der Demaskierung«, so Böll, »entblößen wir etwas, was wir nur selten entblößen: unser Gesicht und das Gesicht unseres Partners wird zum Spiegel, nur für einen Augenblick, nur für jenen Augenblick, für jenen Augenblick, den er nötig hat, sein altes Gesicht wieder aufzusetzen, die Maske, die er täglich trägt« - als Geschäftsmann, Verkäufer, Dame, Kavalier. Im heillosen Verwirrspiel der (De-)Maskierung mit dem Schein und Sein ist die Kunst gefragt, um den Unwägbarkeiten Basis und Forum zu geben.


Cordula Güdemann macht die Gesichter ihrer Mitmenschen und die der Zeitgeschichte, die der Stadtlandschaft und des Alltags mit schriller Farbigkeit sichtbar, ohne der Maske an sich auf den Leib zu rücken, die letztlich eine Unschuldsmiene ist - wohl aber den Maskierten. Ihre Größe macht sich daran fest, dass sie als Beobachterin zwar mal zornig, mal zynisch die Zeitläufte in den Blick nimmt, aber nie verletzt, nie wirklich bloßstellt. Für Böll mag sich der Karneval eignen, »die Alltagsmaske, die sich auf unserem Gesicht festgefressen hat, abzulegen«, damit gibt sich aber die Künstlerin nicht zufrieden, denkt man sich den Karneval weniger als temporäre Maskerade denn als Chiffre für das ganze Leben, deren Wahrheitscharakter ›im wahrsten Sinne des Wortes‹ auf dem Spiel steht. »Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein«, schreibt Franz Kafka: »Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts.« Nur muss die Wahrheit nicht immer leicht erträglich sein.


Maskenland ist die globalisierte XXL-Variante von Güdemanns Maskentheater, das sie mit literarisch-theoretischer Unterstützung von Peter O. Chotjewitz malerisch inszeniert und von der Bühne ins wahre Leben übertragen hat. Ausgehend von der »bewohnten Welt«, die nicht nur phantastisch bizarre Blüten treibt, sondern auch Ror Wolfs hintergründig-rasante Nachrichten aus derselben zitiert, stellt sich auch hier die Frage, wo Bühne und wo Leben sei. »Vorsicht«, schreibt Böll im »Irischen Tagebuch«: »denn das Leben ist nicht ›wie das Leben selbst‹.« Solche Analogien findet die Malerin irre spannend: die Bandbreite an schrägen Inspirationsquellen aus der gerne auch kriminalistischen Dichtung neben Wolf und Chotjewitz ist beeindruckend: Colum McCann, Raymond Queneau und - als Fundgrube des überbordend-gewitzten Sprachspiels - Richard Brautigan. Güdemann holt sich in der Literatur genauso wie im Internet Anregungen, die sie assoziativ miteinander verknüpft und so eine eigene neue Fiktion schafft, die kräftig an der Wirklichkeit kratzt. Gipfel des Maskentheaters ist die »V.I.P.«-Serie, deren Typenparade so viel Demaskierung zulässt, wie sie zugleich Fratzen hochzieht. Wer immer in dem bezaubernden Pigmentquast die Konterfeis von Persönlichkeiten wie Dennis Scheck oder Helmut Schmidt ausmacht, darf sich nicht als Personality-Checker aufspielen: Was wir glauben erkannt zu haben, ist nichts anderes als das medial vermittelte Bild von Menschen, die uns so fremd sind wie der Affe, der sich in die Porträtreihe hineingemogelt hat. Der macht im übrigens die Porträtierten nicht »zum Affen«: Fast liebevoll spricht Güdemann ohne jegliche Häme von ihren »Matschköpfen« am Rande von Bildnis und Karikatur. Wichtig ist ihr weniger der illustrative Charakter als die malerische Problemstellung.


Cordula Güdemann, seit 1995 Professorin für Malerei in Stuttgart, entwirft eine orwell-schöne neue Welt fingierter Bilder, die uns bei genauer Betrachtung bekannt vorkommt: aus dem Alptraum oder aus den Horrormeldungen im Fernsehen und im Internet. Unweigerlich wird der Betrachter zum Voyeur, der am liebsten vergnügt das kunterbunte Treiben dieser multiplen Welten zwischen Idyll und Inferno, zwischen Sofaecke und Chinatorte zur Kenntnis nimmt und plötzlich erkennen muss, dass in der Arena der Eventkultur Menschen misshandelt werden, ein Tribunal als »Abendmahl« deklariert wird oder dass sich hinter Papierfliegern Modelle für Kampfmaschinen tarnen. Die Flucht in die »Nacht der Museen« gibt da nur einen trügerischen Trost: Das Bild im Bild wächst uns Betrachtern wie ein Nachtmahr über die Kopf, oder wir werden selbst Teil eines musealen Maskenlandes, als seien wir eine Auslegeware der Kunst, bestaunt von den anderen. »Welch malerische Intelligenz« bescheinigte Klaus Gallwitz der Malerin, die ihre politischen Landschaften und zwischenmenschlichen Begegnungen im Gespann von Moral und Witz ansiedelt - wohl wissend, dass deren jeweilige Grenzen kontextabhängig im Fluss sind. Wenn Güdemann ihre Farben über der Leinwand ablädt, prangert sie auch die Überschussgesellschaft an, deren Hinterlassenschaft den ästhetischen Reiz einer Müllhalde hat. Es sind aber »die Verfallszeiten der Dinge, mit denen wir leben«, die sie interessieren. Sie profitiert sicher auch am multikulturellen Zuschnitt ihrer Akademieklasse, die ihr verschiedene Blickwinkel vermittelt, die unsere natürlicherweise beengte Sicht auf die sogenannten westlichen Werte relativieren.


Maskenland meint einmal ein Land, wo sich viele eine Maske überziehen oder wo viele mit einer Maske herumlaufen, die sich unmaskiert wähnen; es meint aber auch ein Land, das selbst maskiert daherkommt beziehungsweise für den schönen Schein »in die Maske« geschickt worden ist, als spiele es eine Rolle in einem Bild von James Ensor. Im Wort Maskenland klingt allerdings auch ein wenig das Märchenland an, das Déjà-vus bereithält und sich in der Wiederholung seiner Einzelmotive einen Bilderkosmos von bedrückender Stringenz und tiefsinniger Leichtigkeit erschafft. Wie Güdemanns jüngste Ausflüge in den abstrakten Expressionismus zeigen, funktioniert das auch da, wo sich die Figuration malerisch verflüchtigt. Die Bild-im-Bild-Bilder, wie sie sich in der Sofa-Serie oder dem Museums-Nacht-Zyklus outen, machen auch aus dem Gegensatzmodus Abstraktion-Figuration eine Frage von gegenseitiger Maskierung. Wo immer dahinter ein möglicher Wahrheitsgehalt zu Hause ist, gilt die Maxime: Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild...

 

Günter Baumann, 2011