Maskentheater

Anmerkungen zu den "49 VIPs" von Cordula Güdemann

 

Tatsächlich taucht das Wort "Charaktermaske", das Marx in seiner 1867 veröffentlichten Schrift "Das Kapital" verwendet, sehr viel früher auf. Jean Paul deutet an, wie man sie aufsetzt. In seinem Roman "Hesperus oder 45 Hundsposttage", 1795 ff, heißt es im "dritten Heftlein, dritter Osterfeiertag, 28. Hundposttag": "An einem öffentlichen Orte kostet es weniger als in einem Kabinett, den äußeren Menschen wie eine Charaktermaske über den inneren zu decken".


Schon Paul weiß also allerlei: Die Charaktermaske stellt eine Veräußerung dar, eine Verfremdung, hinter der sich ein zweites Wesen verstecken kann, und sie ist etwas, das den Menschen in seiner öffentlichen, vergesellschafteten Form zeigt.


Ich könnte auch eine Bemerkung Kleists heranziehen, um das Phänomen zu interpretieren, obwohl dieser Dichter das Wort nicht benutzt. In seiner kleinen Schrift über das Marionettentheater (1810) erzählt Kleist von einem noch uneitlen, wunderbar anmutigen Jüngling, der sich abtrocknen will und zu diesem Zweck seinen Fuß auf einen Schemel setzt. Da geschieht es, daß er in den Spiegel schaut. Das Bild, das er erblickt, erinnert ihn an die antike Skulptur des Knaben, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht (sie befindet sich, soweit ich mich entsinne, in Rom im kapitolinischen Museum). Es überrascht ihn, daß seine Körperbewegung die gleiche Anmut zeigt, wie die Skulptur, aber sobald er seine Bewegung wiederholt, um den Genuß der Anmut zu wiederholen, wird er enttäuscht. Der Versuch misslingt. Zehnmal wiederholt er die Bewegung und jedes Mal wird sie täppischer.


"Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an", schreibt Kleist, "ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, Tage lang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen ..."


Man mag Kleist einen romantischen Wirrkopf nennen, der Anmut, Schönheit und Glück in der animalischen Geste eines Fechtbären oder im ferngesteuerten Tanz einer seelenlosen Puppe sucht, die Naturgesetzen folgt, nicht aber dem eigenen freien Willen.


Stellt man sein Gleichnis jedoch auf die Füße, so zeigt sich ein tristes Ergebnis, wenn man die Maske als Ausdruck bedrohlicher Animalität und seelenloser Marionettenhaftigkeit erkennt. Von der Animalität und vom menschlichen Rottenverhalten führt kein Weg zu Individualität und Humanität, sondern nur zu einer zivilisatorisch legitimierten Maskerade von Verblendungen und Überblendungen. Die Welt gerät zum Maskentheater.


Interessanterweise verweist der Marx'sche Gebrauch des Wortes auf eine noch ältere und traditionsreichere kulturelle Praxis, nämlich die Commedia dell'Arte, wo die Masken ebenfalls vergesellschaftete Akteure zeigen. Harlekin, die Marcolfa, der Cavalliere, der Dottore, der Zanni, Pantalone, sie alle erkannte der damalige Theaterbesucher als soziale Prototypen.

 

Der Zanni: Der immer hungrige, ausgenutzte Gelegenheitsarbeiter, der vom Land in die Stadt kommt. Pantalone, der knausrige Hagestolz, Vertreter des Spießbürgertums, der sich am Vermögen seines Mündels bereichert und es ohne Rücksicht auf die Gefühle des Mädchens an den erstbesten Spießbürger verheiraten will. Der verarmte, heruntergekommene Mensch, der, wie seine ganze Klasse, nicht gelernt hat, seinen Lebensunterhalt durch ehrliche Arbeit zu verdienen: der Cavalliere. Marcolfa, die intelligente, rhetorisch brillante, mit allen Wassern gewaschene Schwester der klugen Else des Grimmschen Märchens, auch sie eine Dienstmagd, die den Schwachen hilft, den Reichen ein Schnippchen schlägt und für ein Happy End sorgt.


Naturlich hat das bürgerliche Theater des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich, England, Italien mit Erfolg versucht, die Kunstkomödie zu entpolitisieren und ihren Masken die soziale Lesbarkeit zu entwenden.


Im deutlichsten zeigt sich diese Tendenz am Harlekin. Wer er wirklich war zwischen der frühen Neuzeit und der bürgerlichen Aufklärung, sah man an seinem Kostüm. Sein Gesicht war schwarz, von Ruß gefärbt, später eine dunkle Ledermaske. Sein Gewand war grün, darauf Blätter, ein Hinweis auf seinen Lebensraum. Er war ein Waldmensch, ausgestoßen von der Gesellschaft des Bürgertums in den Städten und dem Feudaladel auf den Dörfern, ein Vorläufer des Hartz-IV-Empfängers, des Bewohners der Banlieus. Wild, ungezähmt, unzivilisiert, furchteinflößend.


Er war "der Räuber allerkühnster" (Vulpius), der davon lebte, daß er die Kaufleute überfiel oder die ohnehin schon armen Bauern beklaute.


Auf der Bühne des Maskentheaters hat sein unzivilisiertes Benehmen Regeln, die aber nicht die der Spielstätte des Bürgertums sind, das er verschreckt. Er rülpst, furzt, schlägt Purzelbaum, läuft auf den Händen, tritt die anderen in den Arsch, greift den Frauen unter die Röcke, schert sich nicht um die Sitten der Gesellschaft, stiftet Verwirrung, streckt allen die Zunge raus. Er ist auf vielen europäischen Volksbühnen zuhause, immer unter anderem Namen.


Die Harlekinmaske zeigt: Das Böse ist immer und überall, es ist bei uns, so sehr wir auch versuchen, es zu emarginieren, an seinen Ursprungsort zurückzuverbannen, in den Wald, die Wildnis, denn dort kommt er zwar immer wieder her, aber dort ist nicht sein Ursprung.
Sein Ursprung ist unsere Welt, die Welt der anderen Masken. Der Masken, die in der zivilisierten Gesellschaft leben. Die Maskenbilder des Belgiers James Ensor wirken deshalb so bedrohlich, weil der Maler diese Dialektik begriffen und in seine Kunst übersetzt hat.
Cordula Güdemann hat schon immer - neben vielen anderen Sujets - das Antlitz und die menschliche Gestalt zum Thema ihrer Arbeiten gemacht. Die grauen Männer von 1981, von denen vier im Katalog "Bilder aus der bewohnten Welt" von 1994 abgedruckt wurden, zeigen männliche Prototypen, die Ähnlichkeiten mit bürgerlichen Machtmenschen suggerieren.


Deutlicher sozial zu verorten sind die Figuren auf dem Bild "Höhlenmenschen" von 1991, das im Vordergrund eine Gruppe zeigt, die in Darstellung und Anordnung auf das übliche Gruppenbild mit Dame der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl verweist.


Solche Analogien dürfen nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß es Cordula Güdemann um die malerische oder zeichnerische Auseinandersetzung mit erkennbaren Figuren der Zeitgeschichte ginge.


In ihrem Werk überwiegen Gesichter und Körperhaltungen, die wegführen von Individualität und zum Teil auf Physiognomik ganz verzichten, etwa indem die Gesichter nur noch der Form nach Gesichter sind oder solche zu sein scheinen, weil sie sich auf Körpern befinden.


Was zur Verfremdung beiträgt, sind nicht selten die Bildelemente, in die die Figuren eingebettet sind, aber auch die Peinture und die Farben. Die Malerin verfügt über diverse Methoden, von konkreten Verhältnissen der "bewohnten Welt" zu abstrahieren. Die Mitteilungen der Bilder werden durch sie zur quasi allgemein geltenden Wahrheit, die nichtsdestoweniger Erschrecken und Zweifel an Existenzformen auslösen. Die Bilder werden deshalb je nach Disposition des Betrachters als Beleidigung und persönlicher Angriff empfunden.


Auch darum geht es der Künstlerin. Was sie bezweckt ist nicht Oberfläche, nicht die Schaffung von gemalten Paradoxien und nicht ein Diskurs über Weltbilder, die man distanziert betrachten könnte. Durch ihre Bilder schafft sie Raum für eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Betrachter, seine Art zu leben, zu denken und zu fühlen, sein Selbstverständnis. Nicht die Darstellung von Weltanschauung ist das Ziel. Der Betrachter wird veranlasst, sich mit sich selber auseinanderzusetzen.


In dem Sinne stellen die Pseudoporträts, die in diesem Büchlein versammelt sind, eine Novität dar. Was auf den ersten Blick auffällt ist der Realitätsbezug der Köpfe. Manche sind unkenntlich, manche meint man auf Anhieb zu erkennen, viele erinnern an Leute, die man schon mal gesehen zu haben meint - im Fernsehen, in der Tageszeitung, in der Illustrierten, auf Plakaten. Es gibt viele scheinbare Ähnlichkeiten in der Bildfolge, die absichtlich nicht weggemalt aber auch nicht herbeigeführt worden sind.


Im Original sieht man deutlicher, als in der Abbildung, daß die Bilder nicht als Portraits und auch nicht als Verfremdungen existenter Figuren gedacht sind. Der Farbauftrag ist schmierig, oft mehrere Zentimeter dick, die Arbeiten grenzen an Reliefs. Die Ölfarbe ist wie Modelliermasse auf die Leinwand gedrückt und dort mit dem Pinsel nur grob verteilt worden.
Versucht man vermeintlichen Ähnlichkeiten auf die Spur zu kommen, so wird deutlich, daß die Figuren nicht allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen zuzuordnen sind. Was die Bilder zeigen, sind die Repräsentanten und führenden Persönlichkeiten von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Unterhaltungsindustrie. Der Titel der Serie, "VIPs" erwähnt deshalb nur etwas, was auch der Bildbetrachter sieht, der nicht darin geübt ist, die Elaborate der zeitgenössischen Malerei zu interpretieren.


Diese Fokusierung verleitet zu einem sozial-politischen Diskurs, was nicht bedeutet, daß die Künstlerin sich mit den Analysen und Maximen beschäftigt hat, die ihm zugrunde liegen. Ja, es mag sein, daß sie mit ihnen nicht einmal einverstanden wären, was die Legitimität des Hinweises nicht außer Kraft setzt. Es liegt im Wesen der Kunst, daß der Betrachter unter Umständen mehr aus einem Bild herausliest, als der Maler hineingelegt hat.
Worum geht es?


Karl Marx hat darauf hingewiesen, ich entsinne mich nicht an welcher Stelle, daß zwar die Menschen selber auf den Markt gehen können - den "Arbeitsmarkt" -, um ihre Arbeitskraft, das heißt, sich selber zu verkaufen, nicht aber die von ihnen produzierten Gegenstände. In der Gesellschaft, die nicht der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen ist, treten sich Erzeuger und Käufer der Produkte von Person zu Person gegenüber und dem Erzeuger bleibt ein Teil seines Produktes erhalten.


In der Warenwirtschaft der modernen Gesellschaft wird der Arbeitskraft alles genommen, nicht nur ihre Arbeitskraft und das Produkt ihrer Arbeit. Sie muß, was sie braucht, auch noch zurückkaufen. Dadurch wird der Mensch quasi zur Marionette.


Aber auch das Produkt, was immer es sei, ein Laib Brot oder ein Fahrzeug Marke Porsche, kann nicht selber auf den Markt gehen und sich verkaufen. Es braucht jemand, der es sich aneignet und es verkauft, damit es wieder zu Geld wird.


Die Menschen, die diese Aufgabe erfüllen sind Kapitaleigner, Bankiers, Kaufleute jeder Größenordnung, Werbefachleute, die sich einer sehr viel größeren Zahl von Gehilfen bedienen, Manager zum Beispiel, und natürlich wird zur Erledigung der Aufgabe eine eigene Klasse benötigt, die Klasse der Politiker, die anstandslos in die Klasse der Manager wechseln können, also austauschbar sind, die Künstler benötigen und Leute, die Kunst verkaufen, damit keine Langeweile aufkommt.


Cordula Güdemann malt diese soziale Gruppe, doch sie malt sie nicht als Individuen, sondern so, wie sie uns in der medialen Vermittlung auftreten - als gesellschaftliche Prototypen, die austauschbar sind, persönlich gut oder böse sein können, klug oder dumm, kunstsinnig und gebildet oder abgestumpft und vergattert, jung oder alt, weiblich oder männlich.


Es geht nicht in erster Linie um Individuen, in den Bereichen, in denen die Ökonomie regiert, die die Menschen formt und deformiert, die Armen wie die Reichen, die Mächtigen wie die Machtlosen. Es geht um den Teil im Menschen, der ihn als Personifikation ökonomischer Kategorien ausweist - als Träger von Klassenverhältnissen und wirtschaftlichen Interessen, von Machtverhältnissen, Unterdrückung, Manipulation, Entrechtung.


Wir haben diesen Bildern kurze Texte beigegeben, grundsätzlich Dreizeiler, die fast alle dem gleichen Silbenschema folgen, um eine gewisse Strenge zu erzeugen und die Spontaneität der Bilder zu konterkarieren.


Man suche nicht nach einem Zusammenhang zwischen Text und Bild. Die Gedichte sind den Bildern willkürlich zur Seite gestellt und man würde unter den 49 Texten keinen finden, der zu einem der Bilder passt. Dazu wurden sie nicht geschrieben. Die Texte stammen aus einer anderen Welt. Sie zeigen, daß es nicht nur die Welt der 49 VIPs gibt. Es gibt ein richtiges Leben im Falschen. Es verweist auf die Möglichkeiten drei freien Assoziation der Produzenten und der Phantasie.

 

Peter O. Chotjewitz